Die Oma von Nebenan, Gesundheitsfachleute, Zeitschriften1 und Werbespots vermitteln häufig die weitverbreitete Empfehlung, dass das Heben von schweren Gegenständen mit gebeugtem Rücken zu Schädigungen der Wirbelsäule und der Bandscheibe führt und man stattdessen den Rücken beim
Heben stets „gerade“ halten sollte. Doch ist das nach heutiger klinischer Auffassung tatsächlich noch so? Und was bedeutet eigentlich „gerade“?
Für die Diskussion dieser Frage ist es notwendig viele verschiedene Blickpunkte zu betrachten. Einer dieser Punkte ist der anatomische Bau und die Funktion der Wirbelsäule, welche hier stark vereinfacht beschrieben wird.
Die Wirbelsäule gliedert sich in verschiedene Bestandteile wie Muskeln, Bänder, Wirbelkörper und die dazwischenliegende Bandscheiben. Diese Bandscheiben funktionieren wie ein Schwamm, der sich bei Bewegungen, wie Beugen und Strecken, auswringt und wieder mit Flüssigkeiten füllt (Stofftransport über Diffusion2). Diese Wechselwirkung aus Bewegung ist für die Bandscheibe essentiell, weil sie sich immer wieder mit frischen Nährstoffen füllen muss und dann wieder auswringt. Nur so wird eine Bandscheibe adäquat ernährt. Bleibt der Körper, und in unserem Beispiel die Lendenwirbelsäule dauerhaft nur gebeugt oder nur gestreckt bzw. die Bandscheibe nur ausgewrungen oder nur gefüllt, kann dieser physiologische Stoffwechsel3 nicht stattfinden. Die Bandscheibe „trocknet aus“, ist auf Dauer nicht mehr belastbar und könnte reißen. Das ist es was Mediziner als „Bandscheibenvorfall“ bezeichnen.
Wenn sich ein Mensch vorbeugt und schwer hebt, erhöht sich der Druck auf die Bandscheibe, was wie wir eben erklärten erst einmal normal ist- der Schwamm wringt sich aus. Findet dieses Heben allerdings aus einer Position statt, wo der „Schwamm“ schon dauerhaft ausgewrungen ist und erfährt immer wiederkehrenden Druck, kann die Bandscheibe auf Dauer geschädigt werden.
„Gerade“ bezieht sich auf die Stellung der Wirbelsäule in der Neutralposition. Wie eine Studie der Bern University of Applied Sciences4 zeigt, ist es biomechanisch nicht möglich die Position des „geraden Rückens“ in einer Vorbeuge aufrecht zu erhalten. Eine leichte Beugung findet dabei immer statt.
Der Hinweis sollte also nach aktuellen Studienlagen nicht lauten: „runder oder gerader Rücken beim Heben“, sondern wir sollten uns im Hinblick auf Patienten die Frage stellen, wie der allgemeine Haltungsstatus der Wirbelsäule ist, welche Bewegungsmuster regelmäßig trainiert werden und warum die Wirbelsäule eventuell in einer Position verharrt?
Quellenverzeichnis:
2) https://viamedici.thieme.de/lernmodul/540778/530899/osmose+und+diffusion
3) https://www.orthopaedie-neurochirurgie.com/images/publikationen/2022/ZON_Lumbaler_BSV_2022_web.pdf
4) https://www.bfh.ch/dam/jcr:a7f923d6-b2da-411a-b9ad-b2ead33e16e2/Beugen%20oder%20Nichtbeugen.pdf
5) Bild: Canva Pro